Mein erster Weg – allein – führte mich ins Museum für Sepulchralkultur – einen der documenta Ausstellungsorte – dort blieb ich eine ganze Zeit in einem Raum mit grob behauenen anthropomorphen Holzfiguren. Ich bewegte mich zwischen zwei Figurengruppen, die mich durch leere Blicke einbezogen, nicht losließen, großen Schmerz ausdrückten, Gewalt, Narben. Ein mir unbekannter – wie ich jetzt nachgelesen habe – kosovarischer Bildhauer, Agim Cavdarbasha, 1999 55-jährig gestorben, dessen Skulpturen von serbischen Soldaten in den Fluss geworfen und dessen Atelier in Brand gesteckt worden war, hatte die Skulpturen gehauen, die so auffällig waren, das ich meinen Weg unterbrochen hatte und mehr wissen wollte.
ärgern: Dort im Museum habe ich mich – es war schon das zweite Mal – geärgert, ich fragte das dortige Personal, um welchen Ort es sich denn wohl handelte, der als Titel des Kunstwerks angegeben war. Sie antwortete, das könne man ja wohl nicht verlangen, dass sie sich in allen Kunstwerken auskenne. Es waren in diesem Raum drei Werke. Später habe ich dann erfahren, dass die Aufsichtspersonen deutlich schlechter bezahlt wurden, als beispielsweise die Choristen und dass sie ihren Ort häufig wechselten. Das war auf den vorangegangenen Ausstellungen anders gewesen. Die Aufsichtspersonen waren gleichzeitig auch das Gespräch suchende informierte Personen.
Danach schlenderte ich weiter Richtung Fridericianum, als ich an einem auffälligen Bau beim GrimmMuseum vorbeikam. Kein documenta Kunstwerk, aber offensichtlich ein Denkmal bzw. ein Erinnerungsort – eines unser Exkursionsthemen „Kassel als Erinnerungsort“: Der Bau, der etwas von der Straße abgerückt stand und der mich aber anzog, weil ich ihn nicht aus der Ferne entschlüsseln konnte, ist den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet. Erbaut Stile des Rathauses mit großen grob behauenen Steinen, ein offener Rundbau mit einer schmiedeeisernen Tür – aber verschlossen – „Schlüssel beim Pförtner im Rathaus“. Im Innern des Denkmals – das war zu erkennen – eine große eiserne Dornenkrone – ein christliches Symbol des Leidens für Juden, Kommunisten, Sinti, Roma Schwule?
Ich habe nachgelesen, das Mahnmal wurde schon 1953 errichtet, es ist abgeschlossen, um dem Vandalismus entgegenzuwirken.
Ich ging weiter – interessierter jetzt noch an Stadt und Gebäuden und kam von hinten Richtung Innenstadt und blieb abrupt stehen, perplex, weil ich etwas entdeckte, was ich nicht deuten konnte: ein eingehülltes Haus. Warum hat mich dieses Gebäude so beeindruckt? Als Torwache war es mir bei meinen bisherigen Kasselbesuchen überhaupt nicht aufgefallen. Aber jetzt, so eingehüllt in gebrauchte Säcke und Lederreste einer längst aufgegebenen Kasseler Eisenbahnfabrik, ging ich um den Bau herum, heran, sah die Spuren des Gebrauchs, von Menschen, die die Materialien hergestellt hatten, und Spuren verschiedener Zeiten von Menschendie die Säcke zusammengenäht hatten. Jetzt wollte ich wissen, welches Gebäude denn von Ibrahim Mahama verhüllt worden war als Eingang in die documenta Stadt und warum. Der 1987 geborene ghanaische Künstler tauscht bei Händlern deren alte Säcke gegen neue ein. So werden diese eigentlich nur repräsentativen beiden Gebäude auf einmal Teil einer neuen Geschichte, die die Spuren des Welthandels ganz deutlich trägt. Woher hatten die Kasseler Bauherren der Torwachen im 18. Jahrhundert ihr Geld – wenn nicht aus dem Handel? Und in der Nacht zum 17. September hatten Unbekannte übrigens versucht die verhüllte Torwache anzuzünden. Zum Glück ohne Erfolg.
ärgern: Die Texte von Adam Szymczyk, in denen er schrieb „In unserer Arbeit an der Ausstellung in den letzten fünf Jahren haben wir versucht, uns von der vorformatierten Idee der documenta 14 als einer weiteren 100tägigen Wiederholung der „bekanntesten und meistdiskutierten zeitgenössischen Kunstausstellung weltweit“ … zu verabschieden. Unser Ziel und unser Interesse bestand vielmehr darin, die documenta 14 in ein Kontinuum ästhetischer ökonomischer und sozialer Experimente zu verwandeln.“ (A.S.: Iterabilität und Andersheit 2017, S. 22). Da ist er wahrlich auch nicht der erste, der die Eurozentrizität in Frage stellte, das habe auch schon Catherine David 1997 versucht – gibt Szymczyk auch zu – aber diese Kuratorinnen / Kuratoren hätten allenfalls einen Ansatz gewagt, er hingegen…. Dieses „sich stets wandelnde[s], transnationale[s] und antiidentitäre[s]“ (S. 28), das er für sich reklamiert, hatten wahrlich schon andere Kuratoren der documenta umgesetzt.
Nie vergesse ich die X. Ausstellung (1997) kuratiert von Catherine David, bei der die ganze Stadt in einem ästhetischen Prozess über Wegenetze verändert wurde und damit bis heute mein Blick auf Stadt als Ort, 2002 die Bilder des Künstlers Frédéric Bruly Bouabré aus der Elfenbeinküste und vor allem auf der documenta 2007 das Flüchtlingsboot von Romuald Hazoumé aus dem Benin aus Plastikkanistern zusammengesetzt. Auch nicht Carolyn Christov-Bakargievs Blick und die documenta dependence in Kabul / Bamiyan – und in Kairo / Alexandria . Nein A.S. war überhaupt nicht radikaler.
Und warum konnte man begehbare Kunstwerke nicht begehen? Irgendwie trug diese übertriebene Vorsicht dazu bei, die Werke zu distanzieren.
Warum gab es auf dieser documenta weniger Dialog.
Warum weniger Bezug auf frühere Werke?
Zwei Tage später besuchte ich auch die Ausstellung innen, denn eine der verhüllten Torwachen war wiederum ein documenta Ort: Dort waren es vor allem zwei Ausstellungsstücke, die ich nicht wieder vergessen habe: einmal der Entwurf von Oskar Hansen für ein Denkmal für die Opfer des Faschismus in Auschwitz-Birkenau aus dem Jahr 1958: ein Weg durch das Lager und um diesen Weg herum sollte sich die Natur langsam den Ort wieder zurückerobern. Damals hatte dieser Entwurf den ersten Preis gewonnen, allerdings so steht es im Daybook, die ‚Auschwitz Überlebenden hätten diesen Entwurf abgelehnt’. Ich vermute, dass es so einfach nicht gewesen sein wird: das damals sicher kommunistisch geführte Auschwitzkomitee wurde – wohl von der abstrakte Kunst ablehnenden Doktrin der Sowjetunion geleitet, wenn sie überhaupt einen Spielraum der Entscheidung hatte. Der Entwurf hätte die Debatten heute nach dem Grad der Restaurierung von Relikten wie Haare, Brillen usw. ersparen können.
Und dann befand sich in diesem Raum auch noch ein Werk von Lois Weinberger. Eigentlich nur ein Kasten mit Fotografien, aber nach dem Gartenstück in der Karlsaue und einem documenta Kunstwerk schon vor 20 Jahren, damals hatte er die Gleise des Kasseler Bahnhofs mit Wildkräutern, Blumen und Unkraut bepflanzt, war ich nun noch aufmerksamer. Denn dieses Werk stellte für mich eine Beziehung zu den beiden documentas 1997 und 2012 her: Schon 1997 hatte die damalige documenta Chefkuratorin Catherine David diesen Künstler eingeladen und ich erinnere mich, das auch dieses schon Gedanken an Bewahrung von Natur und Zerstörung nachhaltiger Bewirtschaftung der Natur nach sich zog. Das war das große Thema der letzten documenta 13 unter Leitung von Carolyn Christov-Bakargiev 2012: die ästhetische Qualität von Intervention, die Funktion der Kunst für gesellschaftliche Veränderung. Ich habe damals erst de Aufmerksamkeit für Ernährung bekommen – guerilla gardening – urban gardening usw. Ein Bezug , der mir sonst manchmal auf dieser documenta fehlte, die ich ja auch als Dialog verstehe – auch in die Geschichte der Vorgänger-Ausstellungen hinein.
In Athen hatte Lois Weinberger die Raumskulptur: Debris Field (2010–16): Ausgrabungsobjekte vom elterlichen Bauernhof in Österreich, Fotografien, Skulpturen, Arbeiten auf Papier ausgestellt. Das waren Objekte, die Weinberger in einer sorgfältigen archäologischen Ausgrabung in seinem Elternhaus gefunden hatte. Einfache Alltagsstücke, Gegenstände, die lange Zeit jemand wichtig gewesen waren und irgendwann einfach nur noch Überrest oder Müllwaren.
Es waren noch einige Kunstwerke, die mir weiter in Erinnerung bleiben: Sie haben häufig mit Erde, Eisen, mit Textilien, der Stofflichkeit rauer Oberflächen, mit Linien, Wegen, Überresten zu tun. Ihre haptische Qualität, Objekte, die einen Eindruck hinterlassen, weil sie sich in meine Wahrnehmung graben – mir fällt kein besserer Begriff ein. Hieran merke ich, wie schlecht ausgebildet mein Vermögen ist, solche Spuren in meiner Wahrnehmung und Erinnerung zu beschreiben. Wenn ich aber Prozesse beschreiben will, die mich – durch ästhetisches Erleben – beeindrucken, bewegen, anhalten, fragen lassen, bräuchte ich solche Begriffe.
Mir blieben auch solche Werke in Erinnerung, die Spuren von denen enthielten, die vor mir diesen Weg gegangen sind, den Stein berührt hatten usw. Im Garten des Museums für Sepulchralkultur war ein Werk aus Athen zu sehen, ein Stein von dem Ort, an dem das Verfahren gegen Sokrates eingeleitet worden sein soll.
Ähnlich wie die Überreste aus Weinbergers Elternhaus oder eben dieser Stein oder die Kaffeesäcke waren die Objekte durch die neue Verwendung abstrakt genug, dass ich deren Oberfläche / Spur folgen konnte und konkret genug um Erinnerungen in mir zu wecken. Das sind Prozesse, die zunächst nicht verbal erfolgen, die eher Empfindungen sind – ich musste auch an „Einbildungskraft“ W. von Humboldts denken, die solche Objekte in mir auslösten. Auffallend ist, dass etliche Werke mir sehr präsent sind, sie haben meine Wahrnehmung nicht nur insofern geprägt, als ich mit ihnen Erfahrungen gemacht habe, sondern die Art und Weise, wie sie existierten (manche der Kunstwerke waren ja vergänglich), veränderte tatsächlich meine Aufmerksamkeitsrichtung ganz prinzipiell. UM