#Entscheidung

Die Entscheidung, die documenta 14 zu besuchen, war ein spontaner Entschluss. Das Hören auf ein Bauchgefühl. Irgendwie war er schnell da, der Gedanke, dass ich an meinem persönlichen Experiment mit der bildenden Kunst gerne teilnehmen möchte. Zunächst ohne überhaupt den Funken einer Idee, was mich auf der documenta erwarten würde und ohne Kenntnis, in welcher Tradition sie steht, wie sie sich gibt und was ihr wichtig sein könnte.

Ich habe mich entschlossen, mich von dieser Fahrt einnehmen zu lassen um zu sehen, wie ich zur in Kassel präsentierten Kunst stehen könnte. In der Vorbereitung habe ich mich bei der Auswahl meiner Interessen aus dem Begleitkatalog von eben diesem Gedanken leiten lassen. Ohne Vorkenntnisse blätterte ich durch die vielen Seiten, die mir zunächst nicht viel sagten. Kryptische Texte, Bilder von Gegenständen, Überschriften, Symbole, unscharf fotografierte Menschen… Gleichzeitig empfand ich aber die Gewissheit, dass jede Seite so unfassbar schwer sein muss, dass sie eigentlich ein eigenes Buch füllen könnte. Sie spiegelte bisher nur so wenig zurück, weil ich ihr so wenig entgegen bringen konnte. Wird schon werden. Wenn ich da bin, finde ich sicherlich einen Zugang zur der Welt, die eine ganze Welt zu bewegen scheint.

Der Kunstunterricht in Schule und Ausbildung war meistens ein Highlight. Etwas passierte, wenn ich zeichnen konnte, Materialien bearbeitete, an Details feilte und durch die Kunstgeschichte pinselte. Vielleicht war es die Freiheit, die ansonsten im Alltag der Schule machmal fehlte… Was auch immer… Ich wählte Kurs um Kurs, vertiefte mich und probierte unterschiedlichste Stile, Techniken und Formate aus.

Im Laufe der Jahre ist sie mir dann abhanden gekommen, die Kunst. Sogar ohne das ich ihre Abwesenheit so richtig bemerkte, geschweige denn vermisst hätte. Vermutlich steckten meine ersten Berührungen damsl auch noch soweit in den Kinderschuhen, dass mir heute jede akademisch zirkulierende Diskussion mit ihren philosophischen, kritischen, politischen, historischen und avantgardistischen Winkelzügen vollständig verborgen geblieben ist.

Das wird er dann wohl wirklich gewesen sein, der Grund für mein Interesse an der documenta 14. Ich hegte die Hoffnung, herauszufinden, ob ich mich mit der bildenden Kunst arrangieren kann, ob sie neue Perspektiven eröffnen kann oder mich berührt. In der Vorbereitung zur documenta habe ich mich intensiv mit Louis Weinberger beschäftigt. Diesem ethno-poetischen Künstler, der sich mit Prozessen der Verpflanzung, Migration und dem Kern von Kultur in ihrem Dialog mit der Natur beschäftigt. Ausgewählt habe ich ihn aus dem documenta-Katalog, weil ich sein Werk als Aufruf zur Suche, zur Befremdung und zur Entdeckung ganz nah bei meinem eigenen Antrieb empfunden habe.

Umso intensiver ich mich mit seinem bisherigen Wirken und seiner documenta 14-Kunst beschäftigte, umso weiter fühlte ich mich bestätigt. Ich werde als Besucher eingebunden, irritiert, zum Mittelpunkt der Installation. Der Graben, den Weinberger in der Karlsaue aushob, markiert eine Grenze. Er durchtrennt Kulturlandschaft. Sauber gemähten Rasen, einen Weg. Dabei ist der Eingriff des Künstlers einmalig. Nachdem der Schnitt durch die Ordnung erfolgt war, überließ er den rohen Erdboden sich selbst. Die Natur begann das zuvor mit Rasen bewachsene Stück Erde wieder zu besiedeln. Nicht aber erneut mit Rasen, der fand in seinem vormals ‚wohnlichen‘ Habitat keine Lebensgrundlage mehr. Bewachsen wird der Streifen inzwischen von Kräutern, Wildgräsern, Brombeeren und was sonst irgendwie migrieren und Fuß fassen konnte. Ein schönes Bild, wie ich fand.

Die Besucher*innen stoßen ganz unkompliziert auf diesen Streifen. Sie erleben ihn mit allen Sinnen, je nach eigener Stimmung, eigenen Gedanken, Wetter, Licht und Tageszeit. Man kann sich emotional oder intellektuell nähern. Aber eben auch ganz körperlich. Mit einem großen Schritt, mit einer Berührung. In dem man lauscht, tief einatmet oder die Augen schließt. Eine ganzheitliche, eine ästhetische Erfahrung.

Dabei fällt es besonders leicht, sich befremden zu lassen, sich selbst als Instrument und Sensor wahrzunehmen um so, ganz nach ethnographischer Tradition, einen subjektiven Eindruck des Unbekannten nieder zuschreiben.

In Kassel angekommen, erlebte ich eine bunte Stadt, die sich aber recht wenig um ihre documenta zu scheren schien. Wenig Getöse um die Ausstellungen. Routine und Alltag.

Die Jugendherberge wurde bezogen. Hier war die documenta erstmals indirekt zu spüren. Es war voll. Ein Container im Hof sollte als Ausweichdusche dienen, war aber abgeschlossen und offenbar außer Betrieb.

Nach einem gemeinsamen Einstieg und dem Bezug der Zimmer folgte die Möglichkeit, Kassel und die documenta zunächst ein wenig kennenzulernen. Wir entschieden uns für einen Besuch des Bergparks auf der Wilhelmshöhe. Im Bergpark kam mir der Gedanke, dass hier ein ganz ähnliches Thema in den Hang gebaut wurde, mit dem ich mich über Lois Weinberger in der Vorbereitung auf die documenta beschäftigt hatte: Ein künstlich angelegter Park, der sich an unzähligen Stellen bemüht natürlich auszusehen. Es scheint der Versuch gemacht, die Natur in ihrer Natürlichkeit zu kultivieren. Künstlich arrangierte Wasserfälle, Seen und Felsen. Von Beginn an als Ruinen gebaute Aquädukte, Burgmauern und Brücken. Arrangiert, bepflanzt, gepflegt. Mit aufwändiger und gut in die Topografie angepasste Technik, die für die Wasserspiele sorgt. Ganz klar wird mir der Umriss der Berührungen immer noch nicht… Aber es scheint, als ob Weinbergers Graben auch hier hätte gezogen werden können. In dem er thematisiert, dass wirkliche Wildnis dort entsteht, wo Natur über Kultur wächst. Ungesteuert und ungeplant. Nicht wie in Nationalparks, wo der Mensch ihr innerhalb gezogener Grenzen das Wildsein erlaubt. Sondern in den Brachen des Kulturraums. Wo Neophyten ehemals besiedelten Raum erobern, sich ganz frei und ungeplant durchsetzen, besiedeln und transformieren. Den Raum verändern, umdeuten und anpassen. Bei genauerem Hinsehen geschieht dies sogar in der so akkurat geplanten Landschaft des Kasseler Bergparks Wilhelmshöhe. In den Ritzen der sorgsam angeordneten Felsbrocken wachsen Pflanzen, die sich hier angesiedelt haben. Die den Fluss des Wassers stören. Oder gar nur dort wachsen können, weil das künstlich hindurchgeleitete Wasser einen geeigneten Lebensraum schafft. Mose, Farne oder Wasserpflanzen. Insekten, Vögel und kleine Säugetiere nutzen die Kulturlandschaft und gestalten sie um. Arten finden Nistmöglichkeiten, die sie normalerweise in Kassel nicht gefunden hätten. Kaninchen untergraben die sorgsam gepflegten Wiesen.

Über Nacht kam dann die Erkältung. Schlafen war kaum mehr möglich. Vom am nächsten Morgenfolgenden Besuch des Fridericianum blieben Eindrücke. Aber kaum solche, die in der Manier akademischer Reflexionen rückgekoppelt worden wären. Die Klimaanlage tat ihren Beitrag zur Atemnot und Stimmverlust, wuselnde Menschen, volle Gänge, lange Flure und Treppenhäuser ihr

Übriges.

Es blieben Stacheldraht, bunte Mandalafetzen auf dem BodenSchläge auf Metall und das befremdliche Gefühl, dass eine dunkle Woge des Mittelmeeres auslöst, wenn plötzlich Menschen im Wasser zu ertrinken scheinen. Es sind die Emotionen, die einige Installationen auslösen, die mich erreichten. Angst, Beklemmung, Bedrückung, Irritation, Orientierungslosigkeit. In Verbindung mit Fieber, vielleicht auf eine besondere Art. Ein Gefühl von Kontrollverlust, Reizüberflutung, Kapitulation vor der Vielzahl der Eindrücke. Es ist weniger die Skulptur, das Bild, die Installation, oder die Fotografie, die ich nicht verstehe. Es ist die Szene, der Umgang mit ihnen, die Abstraktheit und die Art, all das permanent zu reproduzieren. Die Sprache, die Ernsthaftigkeit… mit der die Kunst manchmal präsentiert, erlebt und diskutiert wird. Diese Praktiken scheinen nicht meine zu sein. Indem von Individualität ausgegangen wird, scheint es dennoch eine Form der Gemeinsamkeit in Handlung, Sprache und Zugang zu geben. Eine Form der Praktik, in der sich eine Szene definiert und abgrenzt. Rituale, die Zugänge eröffnen und schließen. Eine für mich wirklich spannende Erfahrung, die ich unter Einnahme der Perspektive des Ethnographen zum Anlass zahlreicher Fragen und Interessen nehmen könnte.

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, vielleicht auch aus Perspektive der Soziologie, habe ich meine ethnographische Reise in den mir völlig fremden documenta-Kosmos mit Fragen verlassen. Fragen nach Praktiken einer Szene, nach Zugängen und Abgrenzungen. Nach Wechselwirkungen zu Kapital, nach Ritualen und Bedeutungen für Lebenswirklichkeiten. Diese Fragen nehmen vielleicht noch Konturen an. Vielleicht verschwinden sie auch wieder.

Der Blick schweift aus dem Fenster des Regionalexpress über das Gleisbett und streift für kurze Zeit ein Gebäude, dass zwischen den vielen Gleisen steht. Skurril erscheint es mir, gehört doch ein Gebäude überhaupt nicht in die Nähe von Bahnschienen. Braun-graues Wellblech. Rostige Stahlträger, verzweigt und verstrebt. Nieten, Löcher, ausgefranste Kannten. Eigentlich nur ein Dach, getragen von Stützen. Zwischendurch ein paar Ziegelmauern. Mit Efeu bewachsen. Mittendrin wächst ein Baum. Beleuchtet durch Löcher und Oberlichter im Dach. Die Schienen verlaufen durch das Gebäude. Vermutlich wurde es einmal als Werkstatt oder Unterstand für Züge genutzt. Jetzt dient es dem Baum als Habitat. Der nächste Bruch. Nicht nur dass Gebäude nicht auf Schienen gehören, Bäume gehören doch noch weniger in Gebäude. Es wirkt angenagt. Beim zweiten Blick fällt auf, dass Büsche und kleine Birken im Gleisbett wachsen. Gras, allerlei andere Pflanzen haben sich zwischen dem Gleisschottern ihren Weg gebahnt. Folie flattert im Wind.

Und dann ist das Gebäude auch schon am Fenster vorbei gezogen.

Lois Weinberger hat zur documenta 10 ein Gleisbett im Kulturbahnhof in Kassel mit Neophyten bepflanzt und dann sich selbst überlassen. Die Natur hat sich gegen die Kultur durchgesetzt. Hat sich wild und unkontrolliert zwischen den Stahlschienen verbreitet, sie überwuchert und immer unsichtbarer gemacht. An einer Stelle, die vom Menschen geschaffen, mitten in der Stadt liegt. Am wenigsten erwartet man hier Wildnis.

Jahre ist es her, dass ich die Schublade mit den Bleistiften, Pinseln und Farben das letzte Mal geöffnet habe. Ich glaube, ich werde es in Zukunft wieder öfter tun. In diesem Sinne: Danke documenta! DB

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